Kulturtechnik – 140 Zeichen Anteilnahme

Am Heiligabend stirbt ein Polizist am Herborner Bahnhof. Ein 27 Jahre alter Mann war mit einem Messer auf ihn und einen Kollegen losgegangen.

Der hessische Ministerpräsident Thorsten Schäfer-Gümbel bekundet den Angehörigen sein tief empfundenes Beileid. 

Hat er sie angerufen, um sie über den Tod des Vaters, Mannes, Freundes oder Sohns zu informieren?
War er womöglich persönlich im Haus der Familie, um Trost zu spenden?

Nein heute beherrschen wir moderne Kulturtechniken, um in solchen Fällen unser Mitleid unsere Anteilnahme zu veröffentlichen. 

Zu veröffentlichen, nicht etwa Gefühle von Leid, Verzweiflung, Trauer mit den betroffenen Familien zu teilen. Die werden vielleicht nicht zuerst nach dem Handy greifen, wenn Sohn oder Mann und Vater ermordet wurden, um nach Beileidsbekundungen bei Twitter zu suchen. Warum auch? An die Betroffenen richtet sich die tief empfundene Anteilnahme nicht. 

Gibt es dafür eigentlich schon einen passenden Hashtag? #Mordstrauer oder #GbF+ (Gedanken bei Familien Verstorbener) wären schön dafür. 

Heute ist man virtuell bei den betroffenen Familien. Heute sieht persönliche Betroffenheit so aus:

  
Heute sind Trauer Mitleid und Anteilnahme virtuell. Nur wird es nicht gelingen, dass auch Verzweiflung, Trauer und Angst virtuell werden, denn das Leben, Leid und der Tod sind real. 

Deshalb kann es tief empfundene Anteilnahme auf Twitter nicht geben. Nein, das finde ich geschmacklos, heuchlerisch, verlogen, kurz fürchterlich. 

140 Zeichen Anteilnahme für den Ermordeten an Heiligabend – Schöne neue Welt.