Der Amoklauf ist aus der Sicht des Täters ein Akt der Notwehr. Er ist aus seiner Sicht das einzige Mittel wieder Gerechtigkeit herzustellen.
Der Amoklauf ist eine Gegenreaktion auf Gewalt, ein Befreiungsschlag aus der eigenen Ohnmacht.
Allerdings geht es hier nicht um individuelle Gewalt, es geht nicht um eine konkrete Auseinandersetzung, individualisierbare Gegnerschaften, nicht um Unterlegenheit gegen einen greifbaren Gegner. In solchen Fällen kann individualisiert werden, kann man Gewalt gegen das Gegenüber ausüben.
Der Amoklauf ist anders, er richtet sich gegen eine strukturelle Gewalt, es fehlt der konkrete Gegner, doch fühlt sich der Täter von dieser übermächtigen strukturellen Gewalt in seiner Existenz bedroht und in seiner Ohnmacht vergewaltigt.
Diese subjektiv empfundene Bedrohung muss der Aussenstehende nicht erkennen, er muss sie auch nicht verstehen. Sie ist wohl auch nicht objektivierbar.
Die Bedrohung wird vom Täter so wahrgenommen.
Diese Gewalt empfindet er als eine Zerstörung seiner existenziellen Werte, alles verliert seinen Sinn. Es gibt jenseits dieser Zerstörung des eigenen Ichs durch die Gewaltstrukturen nichts mehr.
Damit werden auch Bestrafung, ja sogar das eigene Überleben nach der Tat irrelevant.
„Existenzielle Werte“ kann hier viele Facetten haben.
Es kann der Schüler ebenso der brave Buchhalter sein, der sich gemobbt fühlt.
Der politisch Verwirrte, der seine Existenz durch Überfremdung bedroht sieht.
Der politisch Verwirrte, der seine Existenz, oder auch die derer die er meint vertreten zu müssen, bedroht sieht.
Es kann der sein, der sich im Recht weiß, es aber nicht bekommt.
Es kann der Heimatverbundene sein, der entwurzelt wird durch staatliches Handeln. Egal, ob durch Tagebau oder Fluglärm, durch Hartz IV, Behördenwillkür oder Missachtung durch Versicherungen oder Banken.
Es kann ebenso der wirtschaftliche Ruin sein, an dem das Individuum zerbricht, nach eigenem Empfinden nicht aufgrund eigenen Versagens, sondern aufgrund einer Verschwörung der Konkurrenz, oder der Übermacht der Konzerne.
Die Spanne ist so weit in den Tätern wie in der Taten, dass man das Gemeinsame nicht gleich sieht. Aber allen gemeinsam aber sind die Merkmale strukturelle Gewalt und individuelle Ohnmacht.
Daher finden sich völlig unterschiedliche Täter, Taten und Tatstrukturen, aber die Grundmerkmale finden sich beim Amokläufer von Winnenden ebenso wie bei dem Norweger Breivik, bei Andreas Baader, Osama Bin Laden bis hin zu Michael Kohlhaas.
Letztlich ist auch Terrorrismus nichts anderes, als eine andere Form des Amoklaufs.
Es beginnt mit der Verbrennung der amerikanischen Fahne als Symbol der Demütigung des nicht fassbaren Gegners, und es endet bei den Selbstmordattentätern von 9/11.
Wir müssen diese Täter als eine Kategorie erkennen.
Es gibt den individuellen Amokläufer, der spontan oder geplant gegen seine Ohnmacht aufsteht und sich durch die Gewalttat gegen eine nahezu beliebige Gruppe wehrt, weil er den eigentlichen Gegner nicht fassen kann, weil strukturelle Gewalt nicht individualisierbar scheint.
Das einzige Auswahlkriterium seiner Opfer kann darin bestehen, dass sie sich durch verweigertes Verständnis durch verweigerte Solidarität oder nicht gewährte Unterstützung zum Teil der gewaltausübenden Struktur gemacht haben.
Es gibt aber auch den Amokläufer der der strukturellen Gewalt eigene gewalttätige Strukturen entgegensetzen will. Er bildet eine Terrorzelle, eine terrorristische Vereinigung mit anderen, die empfinden wie er.
Die RAF handelte wie der Amokläufer von Winnenden. Sie hat willkürlich beliebige Personen als Opfer gewählt aus der Grupe derer, die dem Volk angeblich die Rechte nahmen. Oder einfach die, derer sie am einfachsten habhaft werden konnten, solange sie nur irgendwie dazu gehörten.
Eine solche Auswahl soll auch der Rechtfertigung nach außen und in der eigenen Gruppe dienen. Letztlich ist sie aber völlig belanglos, wie der islamistische Terror zeigt, der sich gleichermaßen gegen Gläubige und Ungläubige richtet.
Egal ob Einzeltäter, RAF oder Al-Qaida es geht immer um den Kampf gegen die Angst vor der Ohnmacht gegenüber einer nicht greifbaren Struktur.
Strukturelle Gewalt wurde 1969 intensiv diskutiert, obwohl schon Marx es auf den Punkt brachte:
„Die Theorie der Ausbeutung muss die tägliche strukturelle Gewalt des Kapitals gegen die Arbeiter erkennen lassen,
Johan Galtung ergänzte den traditionellen Begriff der Gewalt, der vorsätzlich destruktives Handeln eines Täters oder einer Tätergruppe bezeichnet, um die Dimension einer diffusen, nicht zurechenbaren strukturellen Gewalt:
„Strukturelle Gewalt ist die vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist“.
Sie war von Anfang an ein politischer Kampfbegriff, kann aber recht gut die vom Täter individuell wahrgenommene Beeinträchtigung und Verletzung, manchmal objektiv auch nur die Verletzung einer Eitelkeit, beschreiben.
Dazu auch: dieser Artikel zur strukturellen Gewalt